Chaotischer Catalysator Stipendien
"Zwischen Überwachungskapitalismus und Überwachungsstaat"
Titel: | Zwischen Überwachungskapitalismus und Überwachungsstaat |
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Untertitel: | Das Individuum im Spannungsfeld zwischen Individualismus und Privatsphäre sowie einer Gesellschaft der Massenüberwachung und Datenverarbeitung in (Technik)Dystopien der Gegenwartsliteratur |
Hochschule: | Karlsruher Institut für Technologie (KIT) |
Fachbereich: | Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien |
Studiengang: | Germanistik |
Geschrieben von: | Julia Steinke |
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Fragestellung
Gesellschaftliche Spannungen, politisches Geschehen und die Auswirkungen technologischen Fortschritts sind in der Literatur der Gegenwart oftmals ein zentrales Thema. Vor allem die Entwicklungen seit der Jahrtausendwende haben zu einem enormen Fortschritt in vielen Bereichen geführt. Gleichzeitig geht damit potentiell eine zunehmende Überwachung der Bevölkerung durch höhere Instanzen, Abhängigkeit von Internetdiensten und ein durch Algorithmen bestimmtes bzw. gesteuertes Leben einher. So gerieten unter anderem digitale Assistenten, wie Amazon Alexa oder Google Assistant, welche als alltägliche Helfer und Sammelstelle für persönliche Bedürfnisse entwickelt wurden, in der Vergangenheit immer wieder in die Kritik, da sie dem Anschein nach ohne explizite Erlaubnis im Hintergrund mithören. Die Frage nach dem Einfluss von Technologien auf das Individuum und die Gesellschaft rückt in den Mittelpunkt politischer Diskurse. In diesem Zusammenhang steht die Stellung des Menschen in einer fiktiven, dystopischen, von Maschinen und Technisierung dominierten Welt zur Diskussion. Die individuelle Identität und der Grad der Selbst- und Fremdbestimmung des Alltags im Kontext von Technik und Algorithmen ist eines von vielen zentralen Themen, die im Rahmen dieser Arbeit behandelt werden sollen. Zwei Jahre vor der Gründung von QualityLand, zwei Jahre vor QualityTime also, gab es eine ökonomische Krise solchen Ausmaßes, dass die Menschen sie als Jahrhundertkrise bezeichneten. Es war bereits die dritte Jahrhundertkrise innerhalb einer Dekade. Von der Panik der Märkte mitgerissen, bat die Regie- rung die Unternehmensberater von Big Business Consulting (BBC) um Hilfe, und diese entschieden, das Land brauche vor allem einen neuen Namen. [...] Die Unternehmensberatung beauftragte die Kreativen von WeltWeiteWerbung (WWW), nicht nur einen neuen Namen für das Land zu erarbeiten, sondern auch gleich ein neues Image, neue Helden, eine neue Kultur, kurz gesagt: eine neue Country Identity. Nach einiger Zeit und noch mehr Geld, nach Vorschlä- gen und Gegenvorschlägen einigten sich alle Beteiligten endlich auf den heute weltbekannten Namen, der sich so vorzüglich dafür eignet, hinter einem ‚Made in‘ auf Produkten zu stehen: QualityLand. Mit jenen einleitenden Worten beginnt die Geschichtsschreibung in QualityLand, das mit seiner Gründung ebenfalls eine neue Zeitrechnung etabliert: die QualityTime. In beiden Teilen der Roman-Reihe beschreibt Marc-Uwe Kling das Leben ausgewählter Individuen in einer dystopischen Gesellschaft, die geprägt ist von modernen Technologien, Algorithmen, künstlicher Intelligenz und sozialer Kontrolle. Klings QualityLand-Reihe fungiert als Inspiration bei der Themenwahl dieser Masterarbeit. Themen wie Unverzichtbarkeit von Online-Services und das Ausspähen von Daten zu unterschiedlichen Zwecken sind in der heutigen Zeit relevanter und aktueller denn je. Mit QualityLand greift Marc-Uwe Kling ebenjene Aspekte auf und verpackt diese in eine befremdliche Vision der Zukunft, in der Maschinen und Algorithmen das menschliche Leben bestimmen und ein Entkommen aus diesem System unmöglich erscheint. Während sich im ersten Schritt der Themen- und Literaturfindung weitere Werke (u.a. Juli Zeh: Corpus Delicti und Joachim Zelter: Schule der Arbeitslosen) im Textkorpus befanden, wurden diese aufgrund der Fokussierung in der weiterführenden Entwicklung der Forschungsfrage ausgeschlossen. Ausschlaggebend hierfür war, dass sich die dystopische Handlung in den aufgeführten Werken nicht primär auf den Einfluss von Technologien, Algorithmen oder Massenüberwachung im Sinne des Überwachungskapitalismus auf das In- dividuum fokussiert. Im Gegensatz dazu wurden Cory Doctorows Little Brother (2008) und Marc Elsbergs Zero – Sie wissen, was du tust (2014) nach weiterführenden Überlegungen in die Auswahl der Primärwerke aufgenommen. Neben QualityLand genießt Sibylle Bergs GRM. Brainfuck (2019) in Verbindung mit Dystopien der Gegenwartsliteratur große Bekanntheit. Eine Miteinbeziehung dieses Romans sowie dessen kürzlich erschienene Fortsetzung RCE. #RemoteCodeExecution (2022) bietet sich entsprechend an. Im Gegensatz zu QualityLand zeichnet Berg in ihrem Romanen eine auffallend düstere Version der Zukunft, mit der sie eigentlich die Gegenwart meint. Josefine Rieks Serverland (2018) sticht aufgrund seiner Fokussierung aus der Auswahl heraus: Während es in den meisten (Technik-)Dystopien um die Gegenwart und drohende Zukunftsaussichten durch Technik geht, siedelt sich Serverland in einer Zukunft an, in welcher der von Technologie bestimmte Alltag und die Massenüberwachung bereits zu einer Katastrophe geführt haben. Alle Systeme inklusive sozialer Netzwerke wurden heruntergefahren, eine neue Generation entdeckt und belebt jene Technologien wieder und taucht somit in die Vergangenheit der vorherigen Generationen ein. Rieks’ Roman bildet einen von potentiell vielen Resultaten von Technisierung und Massenüberwachung ab: Er greift den früher mit dem Internet verbundenen Freiheitsgedanken auf und betrachtet ihn aus der Perspektive einer Generation, die nach dessen Abschaltung lebt. Doctorows Little Brother und Elsbergs Zero stehen stellvertretend für die vordergründige Rechtfertigung einer flächendeckenden Massenüberwachung, nämlich unter anderem der Verhütung bzw. schnellen Aufklärung von Straftaten oder Terrorismus. Zudem bilden sich in den gewählten Werken in unterschiedlicher Weise Protestbewegungen, die sich oft aus der Hackerszene heraus entwickeln, auf welche im Verlauf der literarischen Analyse genauer eingegangen werden soll. Mit der Auswahl der aufgeführten Romane wurde eine möglichst große Repräsentativität des Genres aufgrund unterschiedlicher Fokussierung der einzelnen Werke angestrebt. Die Untersuchung der ausgewählten Werke findet vor dem Hintergrund des Genres (Technik-)Dystopien des 21. Jahrhunderts statt. Einleitend soll eine Einordnung in die Ge- schichte der Utopie/Dystopie, unter anderem mit Voßkamp und Schölderle, vorgenommen werden. Die Frage, wie nah sich die Schilderungen in den ausgewählten Primärwerken bereits an der Realität befinden und wie realisierbar das Beschriebene erscheint, wird sich durch die gesamte Arbeit ziehen. Ebenfalls werden die Rolle und der Stellenwert des Menschen in einer Welt voller Maschinen und Überwachung kontrastiert, in welcher sich das Individuum über Namen, Daten und Ranking-Systeme differenziert und qua- lifiziert. Die Unterscheidung zwischen Überwachungskapitalismus, also dem Ausspähen personenbezogener Daten zu marktökonomischen Zwecken, und dem Überwachungsstaat, der lückenlosen staatlichen Überwachung aller Menschen zur Kontrolle der Gesellschaft, wird im Einzelnen werkimmanent erfolgen. Zudem wird in diesem Kontext auf die Aspekte zweckgebundene Datenverarbeitung, Anpassung des persönlichen Rankings, Verhaltens- prognosen im Sinne des Überwachungskapitalismus und einige weitere Themen einzugehen sein. Ziel der Arbeit soll einerseits der Vergleich der gewählten Primärwerke hinsichtlich Ge- meinsamkeiten und Unterschiede – sowohl im Hinblick auf Erzählform und -technik als auch inhaltlich auf Gesellschaft, den Widerstand gegen das System, Technologien, etc. – und andererseits eine Gegenüberstellung hinsichtlich Ähnlichkeiten zu bereits existieren- den Elementen in der Realität sein. Die Forschungsfrage, welchen Einfluss Technologien, Digitalisierung und Überwachung auf die individuelle Freiheit, die freie Entfaltung und die Entwicklung des Individuums in dystopischen Romanen der Gegenwartsliteratur haben, soll im Fazit auf Basis der Romananalyse und vor dem Hintergrund der eingangs definierten Strukturen erfolgen. Zudem wird auf die Ambivalenz von Technik sowie eine potenziell entstehende Eigendynamik Bezug genommen. Um eine Verbindung der literarischen Werke mit technischen Aspekten sowie der Realität herzustellen, wurde im Rahmen dieser Arbeit eine Umfrage zur Datensparsamkeit durchgeführt, welche den Verbindungspunkt zwischen Fiktion und Realität bilden soll.