Chaotischer Catalysator Stipendium
"Die Wahrheit im Patriarchat - Eine hermeneutische Untersuchung von Wikipedia-Diskussionen"
| Titel: | Die Wahrheit im Patriarchat |
|---|---|
| Untertitel: | Eine hermeneutische Untersuchung von Wikipedia-Diskussionen |
| Hochschule: | Europa-Universität Flensburg |
| Studiengang: | M. A. Transformationsstudien |
| Geschrieben von: | Patrick Nehren |
| Veröffentlicht unter: | DOI 10.5281/zenodo.17619146 |
Einleitung
Wissen ist keine knappe Ressource mehr. Von den meisten Teilen der Welt aus ist es möglich, einer beliebigen Suchmaschine eine Frage zu stellen oder auch nur ein Stichwort einzugeben, um sich darüber weitergehend zu informieren. Die besagten Suchmaschinen verweisen uns da- bei nach wie vor immer wieder auf eine bestimmte Seite: Wikipedia. Selbst in Zeiten, in denen künstliche Intelligenz auf dem Vormarsch ist, bleibt die Online-Enzyklopädie relevant: Sie ist die am zweithäufigsten zitierte Quelle der großen Sprachmodelle (Levin 2025). Die Omniprä- senz der Wikipedia lässt sich kaum leugnen und ist in gewisser Hinsicht auch alternativlos: Es werden schlichtweg keine papierförmigen Enzyklopädien mehr gedruckt.
Neben der Digitalität der Wikipedia unterscheidet sie noch ein anderer entscheidender Aspekt von herkömmlichen Enzyklopädien: der hohe Grad an Partizipation bei der Produktion von Wissen. Grundsätzlich kann jede Person mit Internetzugang Seiten auf der Wikipedia be- arbeiten und so das eigene Wissen mit anderen teilen. Viele Forschende zählen Wikipedia daher zu den Commons (vgl. Beckenkamp 2012; Firer-Blaess/Fuchs 2012; Safner 2016). Das bedeu- tet, im Rahmen der Wikipedia ist es den Nutzenden möglich, durch selbstorganisierte Prozesse eine bestimmte Ressource (Wissen) zur Verfügung zu stellen. Im Falle der Wikipedia kann die erzeugte Ressource sogar von wesentlich mehr Personen als nur den Schreibenden genutzt wer- den, ohne dass es zu Problemen kommt. Der Soziologe Eric Olin Wright ([2010] 2017, 42) beschrieb es folgendermaßen:
Es handelt sich bei Wikipedia um eine zutiefst antikapitalistische Methode der Wissensproduktion und -verbreitung. Sie basiert auf dem Grundsatz: ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!‘
So schön es sein mag, sich die Wikipedia als Vorbotin postkapitalistischer Kooperationsweisen vorzustellen, in der heutigen Realität gibt es berechtigte Zweifel daran, dass die Wikipedia wirklich nach dem Grundsatz kommunistischer Gesellschaften funktioniert. Die hier vorliegende Arbeit möchte einen Blick hinter die Kulissen der Wikipedia werfen, denn sie umfasst wesentlich mehr als die Artikelseiten. Im Hintergrund arbeitet eine ganze Maschinerie daran, zu sortieren, welches Wissen dargestellt werden soll und welches nicht. Dabei spielen die Diskussionsseiten der Wikipedia eine wichtige Rolle, denn sie sind der Ort, an dem über die Legitimität bestimmter Wissensbestände verhandelt wird. Besonders zur Hochphase der Wikipedia in den 2000ern wurden ihre Diskussionsseiten von Forschenden noch als lobenswerte Annährung an das interpretiert, was Jürgen Habermas in sei- ner Theorie des kommunikativen Handelns einen „herrschaftsfreien Diskurs“ nannte. Demnach würden die prinzipiell für alle offenen Diskussionsseiten die Möglichkeit bieten, Machtgefälle zu umgehen und allein auf Basis rationaler Argumente zu einer Entscheidung bezüglich des Inhalts eines Artikels zu kommen (vgl. Barton 2005; Froomkin 2003; Hansen et al. 2009).
In der jüngeren Vergangenheit ist die Interpretation der Wikipedia als emanzipatorisches kollaboratives Projekt aber insbesondere von feministischen Forschenden zunehmend in Zweifel gezogen worden. Mittlerweile wird vielfach eher die Überzeugung vertreten, dass innerhalb der Wikipedia dieselben Macht- und Herrschaftsstrukturen wirken würden wie in der analogen Gesellschaft. Um die Verstrickungen von Macht und Wissen eingehend zu untersuchen, werde ich in der vorliegenden Arbeit der Frage nachgehen, wie feministische Wissensperspektiven auf Diskussionsseiten der deutschsprachigen Wikipedia verhandelt werden.
Ich spreche von Wissensperspektiven, um deutlich zu machen, dass Erkenntnisse über einen bestimmten Sachverhalt immer aus den verschiedensten Blickwinkeln möglich sind. Dabei hat Donna Haraway (1988) die Ansicht, es gebe einen objektiven Standpunkt, aus dem heraus alle möglichen Blickwinkel in Gänze nachvollzogen und wiedergegeben werden können, zurückgewiesen. Jede Perspektive auf die Realität ist notwendigerweise partiell. Folglich verändert sich auch das generierte Wissen je nachdem, aus welchem Standpunkt heraus die Realität be- trachtet wird (ebd.). Der Begriff der Wissensperspektive erlaubt es, Wissen gemeinsam mit sei- nen Träger*innen zu denken. So wird deutlich, dass Wissen keine abstrakte Größe, sondern immer auch an Körper gebunden ist.
Der Fokus der Fragestellung wurde auf feministische Wissensperspektiven gelegt, weil die Wikipedia, wie ich weiter unten zeigen werde, eine männlich dominierte Sphäre ist. Das bedeutet, dass das Anliegen, feministische Wissensperspektiven in die Wikipedia miteinzubringen, vermutlich häufiger auf Gegenwind stoßen wird, als es vielleicht bei wirtschaftswissenschaftlichen, historischen oder sozialdemokratischen Perspektiven der Fall wäre. Der Begriff „feministisch“ ist hierbei allerdings weit gefasst und umfasst alles, was in irgendeiner Weise dazu geeignet ist, den Androzentrismus, der sich in der Wikipedia feststellen lässt, in Frage zu stellen oder (partiell) auszugleichen. Beispielsweise kann es ein feministischer Akt sein, einen Artikel über eine Wissenschaftlerin anzulegen. Diese sind in der Wikipedia unterrepräsentiert und weisen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen bei gleicher Qualifikation eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, nicht in einem Artikel repräsentiert zu sein (Adams et al. 2019). Um die formulierte Forschungsfrage zu beantworten, werde ich in Kapitel 2 zunächst unter Rückgriff auf die Arbeiten Michel Foucaults nachzeichnen, was unter den Begriffen „Wissen“ und „Wahrheit“ verstanden werden kann. Des Weiteren werde ich vorstellen, wie die Wissensproduktion der Wikipedia funktioniert und darlegen, welche konkreten Kritikpunkte aus feministischer Perspektive an der Epistemologie der Wikipedia geäußert werden können. Danach werde ich in Kapitel 3 auf die für die vorliegende Arbeit genutzte Methodik eingehen und verdeutlichen, wie die empirische Analyse der von mir ausgewählten Diskussionsseiten ablief. Anschließend erfolgt die Vorstellung der Untersuchungsergebnisse anhand von insgesamt fünf Einzelfallanalysen in Kapitel 4. In Kapitel 5 werden diese Ergebnisse zusammengeführt und an den Forschungsstand angebunden. Zuletzt wird die Arbeit durch ein Fazit abgeschlossen.